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Uwe Heimowski
Juli 2016 | BLAU - Das Magazin für Sucht- und Lebensfragen

Artikel: Das Leben (neu) entdecken

 

 

Das Leben (neu) entdecken

„Na, euch geht es wohl immer gut?“, begrüßte mich neulich ein Bekannter, den ich seit Monaten nicht gesehen hatte, und den ich jetzt zufällig bei einer Sitzung traf. 

„Wie kommst du denn darauf?“ 

Ich war etwas überrascht, von seiner Bemerkung. Denn wenn er mich einfach gefragt hätte: „Wie geht’s dir?“ hätte sich meine ehrliche Antwort so anhören müssen: Nicht so toll. Ich habe im Moment viele Abendtermine, muss morgens mit den Kindern raus und bin ziemlich übermüdet. Beruflich habe ich mehr zu tun, als ich schaffen kann. Meine Frau Christine ist unterwegs zu einer Fortbildung. Und zu allem Überfluss haben sich in den letzten Tagen ein paar sehr bedrückende seelsorgliche Notfälle an mich gewandt.

Also, wie kam er darauf, dass alles so prächtig läuft im Hause Heimowski? „Ich sehe immer mal deine Einträge und Fotos bei Facebook. Wunderbare Kinder, strahlende Familie. Glückwunsch!“ Und schon musste er weiter.

Mir ging das noch eine Weile durch den Kopf. Was für ein Bild gebe ich nach außen ab? Ist da vielleicht mehr Schein als Sein? Stelle ich etwas dar, was ich in Wirklichkeit gar nicht bin? Die Gefahr ist groß. 

Und doch: „Nein“, dachte ich. Das Bild von der glücklichen Familie ist kein falsches Bild. Ich komme an meine Grenzen, es ist nicht immer leicht, mit der Fülle der Aufgaben, einem fordernden Pastorenjob und einer halben Stelle im Bundestag. Und mit fünf Kindern. 

Aber wenn ich die Summe nehme, ist es eindeutig: Ich bin zufrieden, glücklich – und überreich beschenkt. Mein Leben ist aufregend, es ist spannend, lebenswert, herausfordernd und erfüllend. 

Hätte mir das jemand vor dreißig Jahren vorhergesagt, ich hätte ihn für verrückt erklärt...

Neulich war ich zu Gast in einer Selbsthilfegruppe für Alkoholiker. Dort wurden Jubiläen geehrt. Eine Blume für 15 Jahre Abstinenz, eine dem Mann, der es ein Jahr ohne Alkohol geschafft hat. Ich konnte mich anschließen: „Ich bin seit 1986 trocken. Davor war ich spielsüchtig, trank und nahm regelmäßig Drogen.“ 

Eigentlich bin ich mit einer starken Abneigung gegen Alkohol aufgewachsen. Mein Vater war Alkoholiker, meine Schwester ebenso, mein Bruder vorbestraft – alle Straftaten waren im „Suff“ passiert. So wollte ich nicht werden, niemals. 

Doch dann kam das Sommerfest nach meiner Konfirmation. Ich sei jetzt erwachsen, hieß es, und wurde genötigt mitzutrinken. Apfelkorn. Ich war sehr schüchtern, geradezu verklemmt. Der Alkohol veränderte mich: Ich wurde fröhlich, war lustig, sprach forsch Mädchen an. So wollte ich sein. Also trank ich bei nächster Gelegenheit wieder. Und wieder. Und wieder. Ohne zu merken, dass ich vielleicht ein Problem haben könnte, gingen mehrere Jahre ins Land, in denen ich drei- bis viermal in der Woche stockbetrunken spätabends nach Hause kam. Bald begann ich Haschisch zu rauchen. Die Folgen blieben natürlich nicht aus: die 7. und 9. Klasse musste ich wiederholen, nach der 10. Klasse flog ich von der Schule. Dazu kam Ärger mit meiner Freundin, und – natürlich – zu Hause mit den Eltern. 

Mitten in dieser Krise traf ich eine Klassenkameradin wieder. Früher hatte ich sie immer ausgelacht, weil sie einen roten Sticker trug: „Jesus lebt“. Doch jetzt fragte sie einfach, wie es mir geht, ohne lange nachtragend zu sein, und alles brach aus mir heraus. Es tat so gut, mich einmal auszusprechen. Tanja lud mich in einen Jugendkreis ein. Ich ging mit, fühlte mich wohl, und mein Leben veränderte sich. Ich begann eine Ausbildung zum Erzieher, hörte auf zu trinken – und Tanja und ich wurden ein Paar. Alles schien wie verwandelt, irgendwie schien der Gott, an den diese Leute glaubten, tatsächlich auch in meinem Leben etwas zu verändern.

Doch dann kam der Absturz: Tanja machte Schluss. Ich ertrug es nicht. Die Kontakte zu Christen brach ich ab und verkroch mich in meiner Bude. Trinken und Kiffen wollte ich nicht. „Wegen eines Mädchens?“ - dafür war ich zu stolz. Durch Zufall geriet ich in eine Spielhalle. Ich warf Geld in den Automaten – und erlebte das gleiche wie damals mit dem Apfelkorn: es zog mich in den Bann und verwandelte mich. Mein Frust war wie weggeblasen, ich war nur noch auf die Maschine fixiert. Schon nach ein paar Tagen konnte ich es nicht mehr stoppen. 16 Stunden spielte ich pro Tag, alles Geld, was ich irgendwo auftreiben konnte, wanderte in die Glücksspielautomaten. Blieb ich zu Hause, bekam ich Schweißausbrüche und Panikattacken. Bald trank ich auch wieder, nahm Drogen, und rauchte wie ein Schlot: sechs Schachteln am Tag. Nach zwei Jahren war ich am Ende, körperlich ein Wrack, von der Erzieherfachschule geflogen - und obendrein auch noch total verschuldet. Ich traute mich kaum noch aus dem Haus.

„Und wie hast du es trotzdem geschafft, seit fast dreißig Jahren trocken

zu sein?“ will ein ungeduldiger Zuhörer aus der Gruppe wissen.

Ich habe eine Giraffe mitgebracht, die stelle ich jetzt aufs Rednerpult. „So wie diese Giraffe: den Kopf im Himmel, die Füße auf der Erde.“

Der Himmel griff ein: An einem Abend kam ich von der Spielhalle nach Hause, total betrunken, hatte mein ganzes Geld verspielt. Die Verzweiflung schlug über mir zusammen. Ich wollte nicht mehr leben, trank mir mit einer Flasche Whisky Mut an, um Schluss zu machen. Doch plötzlich schoss mir durch den Kopf: „Wenn die Christen Recht haben, dann stehst du vor Gott und musst all das verantworten, was du angestellt hast.“ Ich kniete, besoffen wie ich war, vor meinem Bett nieder und stammelte ein Gebet: „Gott, wenn es dich wirklich gibt, dann hilf mir, du bist meine letzte Chance.“ So schlief ich ein.

Am nächsten Tag besuchte mich ein Freund aus dem Jugendkreis, der den Kontakt zu mir aufrecht erhalten hatte. Er brachte eine Bekannte mit, die in einer christlichen Therapieeinrichtung arbeitete. Sie hatten von meinen Problemen gehört, und waren gekommen, um mir zu erklären, dass ich mich dort bewerben könnte. 

Ich wusste sofort: die beiden sind die Erhörung meines Gebetes. Ich erzählte ihnen vom Abend davor. Sie waren geschockt, und gleichzeitig total begeistert, wie Gott das jetzt zusammen gepuzzelt hatte. Sie erzählten mir von einem Seelsorger, bei dem ich eine „Lebensübergabe“, wie sie es nannten, machen könnte. 

Ich besuchte den Mann. Er erklärte mir das Evangelium: Dass Gott jeden Mensch liebt, aber dass wir durch unsere Sünde von Gott getrennt sind. Jesus Christus hat diese Sünde am Kreuz getragen. Wer nun seine Sünde bekennt, und Jesus sein Leben anvertraut, der kann frei werden. Das wollte ich. Claus, so hieß der Mann, gab mir einen Zettel. Anhand dieser Fragen sollte ich alles notieren, was ich Gott als Schuld bekennen müsste. Nach ein paar Tagen trafen wir uns wieder. Ich hatte konsequent alles aufgeschrieben, was ich ausgefressen hatte – und auch wenn mir vieles sehr peinlich war, sprach ich es jetzt vor dem Seelsorger und vor Gott aus. Dann betete Claus für mich, und ich fuhr nach Hause. 

Das Wunder geschah tatsächlich, so unglaublich es klingen mag: seit diesem Tag im Dezember 1996 habe ich nie wieder Drogen genommen oder an einem Glücksspielautomaten gesessen, nur beim Alkohol gab es in der ersten Zeit einige wenige Rückfälle.

Mein Kopf war wirklich im Himmel. Doch Gott stellte meine Füße schnell zurück auf der Erde: trotz des Wunders merkte ich, dass mein Leben im Ganzen eine Wende brauchte. Es war ein Scherbenhaufen. Gesundheitlich, beruflich, menschlich. So bewarb ich mich für einen Therapieplatz. Nach fünf langen Monaten Wartezeit bekam ich die Zusage, und begann eine Langzeittherapie in Hessen. Elf Monate dauerte die Therapie, und zwei Jahre Nachsorge schlossen sich an, während denen ich meine Erzieherausbildung, die ich begonnen, aber abgebrochen hatte, abschließen konnte. Danach machte ich meinen Zivildienst im Missionsteam der Heilsarmee in Hamburg, einer sozialen Beratungsstellung im Rotlichtviertel, anschließend bekam ich durch eine Sonderprüfung einen Studienplatz für Theologie. 

Das knappe Jahr bei „Hoffnung für dich“ im hessischen Schloss Falkenberg legte in meinem Leben einen Grundstein, der sich in den Jahren danach bewährt hat. 

Dass ich seit zwanzig Jahren glücklich verheiratet und heute Vater von fünf Kindern bin, hängt sehr mit der Zeit in der Therapieeinrichtung zusammen. Dort lebten Mitarbeiter und ihre Familien mit den Suchtkranken zusammen. Alles war anders, als ich es von zuhause kannte. Hier konnte ich lernen, wie „heile“ Familien miteinander umgehen. Für die Mitarbeiter war es sicher nicht immer einfach in dieser engen Gemeinschaft. In meinem Leben jedoch haben sie tiefe Spuren hinterlassen.

Wenn ich heute auf meine Ehe zurückblicke, kann ich sagen: Wir haben Kinder getröstet, Nächte durchwacht und mehr als einen schweren Verlust beweint. Wir waren glücklich und stolz auf die Kinder und haben Feste gefeiert. Und wir kennen die kreiselnden Gedankenstrudel, für die es im Kopf keinen „Aus-Knopf“ gibt. Wir haben miteinander gebetet - und uns angeschrien. Wir haben den anderen an dem einen Tag als die perfekte Ergänzung erlebt, um uns am nächsten Tag wegen genau der gleichen Eigenschaft keines Blickes zu würdigen. Wir haben geschmollt - und hinterher darüber gelacht, wie kindisch (vermeintlich) erwachsene Leute mitunter sein können. All das hat uns nicht auseinander gebracht, sondern nur noch tiefer zusammengeschweißt. Wir haben gelernt, dass Vergebung keine fromme Floskel, sondern ein Lebenselexier ist. Das meiste davon habe ich mir damals „abgeschaut“

Eine andere Sache, die ich ganz neu lernen musste, war der Umgang mit Geld. Durch meine Sucht hatte ich einen erheblichen Schuldenberg angehäuft. Natürlich musste ich nach meiner Bekehrung meine Schulden zurückzahlen. Ein Freund hatte mir beim Regulieren geholfen und eine Schuldenzusammenlegung veranlasst. So gab es nur noch eine Stelle, an die ich zurückzahlen musste. Kleine Beiträge, so wie meine Situation es erlaubte. Zwar musste ich sparsam sein, um sie begleichen zu können. Doch es schlich sich plötzlich etwas anderes ein. Ich war nicht nur sparsam, ich wurde geizig. Kein Eis, keine Cola, kein Kino, kein Buch – ich gönnte mir selber gar nichts. Ich sparte. Und wurde missmutig. Andere aßen. Und tranken. Und schauten. Und lebten. Und ich gönnte es ihnen ebenfalls nicht. Ich fand eine Begründung: „Wie viel Gutes kann man tun mit seinem Geld? Und ihr, ihr Verschwender alle, ihr schaut einfach weg. Die Elenden interessieren euch nicht!“ 

Tolles Argument. Toller Selbstbetrug. Nicht das Schicksal „der Witwen und Waisen“, wie es in der Bibel heißt, machte mich wütend, sondern ich selbst, meine eigenen Unzufriedenheit stieß mir auf. Wie schnell lässt sich von anderen Armut fordern, wenn man selber nichts hat, was man geben kann. 

Die Tugend, sagt Aristoteles, ist die Kunst der Mitte. Verschwendung ist eine Untugend. Genauso wie der Geiz. Beide gehen am Ziel vorbei. Großzügigkeit dagegen ist eine Tugend. Sie gönnt dem anderen. Und sie gönnt mir selbst. „Wer nicht genießen kann, wird ungenießbar.“ Das musste ich erst langsam begreifen. Ich zahlte meine Schulden. Und ich begann wieder genießen zu lernen. 

Auch begann ich, wirklich etwas abzugeben. Mir wurde „der Zehnte“ zu einer guten Gewohnheit. Geld, das ich einsetze, um etwas Gutes zu tun. So wie Zeit, die ein Ehrenamt fließt, ist dieses Geld nicht verschwendet, nicht vergeudet, nicht verplempert. Es bewirkt etwas. In meiner Kirchgemeinde in Gera, bei meinem Patenkind in Afrika, bei den Suchtkranken für deren WG ich einen Dauerauftrag eingerichtet habe.

Sehr wichtig für mein Leben sind Menschen geworden. „People matter most“, so hat es John Gowans, ein Musicalkomponist und späterer General der Heilsarmee, einmal ausgedrückt. Meine Frau, Kind von Heilsarmeeoffizieren, hatte ihm einen Brief geschrieben mit einigen Fragen für einen Vortrag in der Schule, darin hatte sie ausgedrückt, dass sie verstehe, wenn er keine Zeit zum Antworten finden würde. Doch schon wenige Tage kam ein Brief von ihm. Enthalten einiges Material zu seinen Werken und ein handschriftlicher Brief. „People matter most - Menschen sind das Wichtigste“ schrieb er.

Neben meiner Familie und meiner Gemeinde sind vor allem die Menschen sehr wichtig für mich. Menschen, denen ich vertrauen kann. Die zu mir stehen, wenn ich mal unausstehlich bin. Und die mir die Wahrheit sagen. Ich denke an meinen Freund Holger, der mich nach einer – nicht so tollen – Predigt ansprach, und mich direkt fragte, was los mit mir sei. Er hatte zwischen den Zeilen gelesen, und den Mut aufgebracht, nachzufragen. Das ist unbequem, aber es tut gut.

Nein, uns geht es nicht immer gut. Aber uns geht es gut.  

 

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