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Uwe Heimowski
Februar 2016 | Lebenslust

Artikel: Vater Georgi Edelstein – Priester und Dissident. Ein Portrait

 

 

 Vater Georgi Edelstein – Priester und Dissident. Ein Portrait

 

Goldene Kuppeln leuchten im Abendlicht. Das russische Kostroma, dreihundert Kilometer nordöstlich von Moskau gelegen, ist eine Traumstadt. Im 17. Jahrhundert war sie Heimat der Romanows, der mächtigen Zaren Russlands. Die prachtvollen Kirchen und gepflegten Klosteranlagen zeugen bis heute von dieser Blütezeit.

 

Nicht weit vor den Toren Kostromas findet sich ein anderes, eher unscheinbares geistliches Zentrum. Dreißig Kilometer rumpeln wir über düstere Feldwege und löchrige Panzerstraßen. In Karabanobo, einem armseligen Dorf, treffen wir Vater Georgi Edelstein, den über achtzigjährigen russisch-orthodoxen Priester mit polnisch-jüdischen Wurzeln, dessen unangepasstes Wesen ihn in der Sowjetunion zum Dissidenten werden ließ.

Der Mann ist eine Erscheinung. Seine Hände zittern, an einer Hand fehlen drei Finger. Ein Auge ist blind. Die kaum zu bändigenden, immer noch vollen weißen Haare, wild wuchernde  Augenbrauen, ein Vollbart und eine mächtige Hakennase gegen ihm das Profil eines Propheten des Alten Testaments. Die einladendenden, hellwachen Augen bilden einen freundlichen Kontrast dazu.

 

Die Begrüßung ist russisch herzlich: Küsschen links, Küsschen rechts. Schnell reden wir über Familie. Father Georgi ist begeistert, dass meine Frau und ich fünf Kinder haben. Ich muss mein Smartphone zücken und ein Bild von jedem zeigen.

Ein Schatten fällt auf sein Gesicht als ich ihn nach seiner Familie frage. Father Georgi hat zwei Söhne. Den einen hat er seit Jahren nicht gesehen. Zu Sowjetzeiten hatte Juli-Joel Edelstein sein Judentum neu entdeckt. Selbständig lernte er Hebräisch, gab danach anderen Unterricht. In den 1970er und 80er Jahren war das illegal. Die Hochschule exmatrikuliert ihn, er wurde verhaftet und verbrachte drei Jahre in Gefängnissen und sibirischen Straflagern. 1987  emigrierte Juli-Joul Edelstein nach  Israel. Er ging in die Politik, wurde Abgeordneter der Knesset, des israelischen Parlamentes, später Minister, heute ist er Parlamentspräsident. Eine steile Karriere, doch Father Georgis größter Wunsch wäre, ihn noch einmal in die Arme zu schließen.

 

"Gibt es eigentlich auch einen Heiligen für Politiker?" nehme ich den Faden auf, als Father Georgi uns seine Kirche zeigt. Der schlichte Bau ist mit vielen Ikonen geschmückt. "Natürlich" antwortet der Priester, "und mehr noch. Dieser Heilige hat einen direkten Draht zu Gott und hilft in allen Lebenslagen." Neugierig frage ich nach: "Wer ist dieser besondere Heilige?" Der gütige alte Mann lächelt milde: "Jesus."

Eine Ikone fällt mir besonders ins Auge. Sie ist neu, hat kein historisches Vorbild. Father Georgi hat sie selber entworfen und von einer jungen Künstlerin malen lassen: Ein weinender Jesus, der in seiner Hand einen Embryo hält. „Weint er über die abgetriebenen Kinder?“ frage ich. Father schüttelt den Kopf. „Nein, über die Mütter. Die Kinder waren unschuldig und sind nun bei Gott. Jesus weint über die Mütter, die von Schuld gequält werden.“

 

Der Glaube an Jesus war Georgi Edelstein nicht in die Wiege gelegt. Sein Vater, ein Russe, war Jude, praktizierte den Glauben aber nicht. Die Mutter, eine Polin, wurde katholisch getauft, ging aber nicht zur Kirche.

1932 wird Father Georgi als Yuri Edelstein in der Nähe Kiew geboren. Mit dem Beginn des Krieges flieht die Familie nach Kasachstan, später nach Kursk. Es folgt dennoch eine glückliche Kindheit. Yuri ist gut in der Schule, beginnt nach dem Abschluss ein aussichtsreiches Linguistik und Fremdsprachen Studium in St. Petersburg. Eine Karriere in der Partei liegt vor ihm.

 

Doch statt Kommunist wird er Christ. Warum?

„Jesus found me“, lacht der weißhaarige Alte sein ansteckendes Lachen, „Jesus hat mich gefunden.“

Seine Großgroßmutter habe immer gebetet, dass einer ihrer Enkel einmal Priester werden würde, erzählt er. „Gott hat ihr Gebet dann beim Großenkel erhört.“ Auch die christlichen Texte der Lieder seiner Mutter, beim Zubettgehen gesungen, haben ihn nie verlassen. In St. Petersburg wohnt er nahe einer Kirche, der regelmäßige Gesang spricht etwas in ihm an.

Einen großen Einfluss auf Yuri hat die Russische Literatur. Während seines Studiums entdeckt der junge Mann, dass viele der großen russischen Schriftsteller Christen sind.

 

Und noch einen Grund führt er an: „Es war ein Versuch der kommunistischen Propaganda zu entkommen. Ich mochte einzelne Kommunisten, aber nicht den Kommunismus, und nicht seinen ideologischen Einfluss.“ Der freiheitsliebende Yuri fühlt sich indoktriniert. Die Kirche nimmt er als Gegenpol zur Staatsideologie wahr.

Als er Jahrzehnte später erfährt, dass viele hohe Amtsträger seiner russisch-orthodoxen Kirche KGB-Spitzel waren, wendet er sich 2003 in einem offenen Brief an Präsident Putin, in dem er namentlich Alexius II den damaligen Patriarchen anklagt. Sein Brief wird weltweit veröffentlicht, eine Antwort bekommt er nicht.

 

Georgi ist 23 Jahre alt. Er geht zum Priester und möchte getauft werden. „Was weißt du über Jesus?“ „Nichts.“ „Kennst du die Bibel?“ „Nein, ich habe nie hinein geschaut.“

Damit scheint das Thema erledigt. Doch zu Geogis Erstaunen bittet ihn der Priester, am nächsten Tag um sechs Uhr morgens in die Kirche zu erscheinen. Georgi kommt, der Pope fragt in die Runde wer Pate werden wolle und tauft ihn. Ein paar Tage später schenkt ihm jemand ein Neues Testament. Ein altes, zerrissenes Buch, er liest es und ist begeistert. Die Bergpredigt überwältigt ihn. Diesem Jesus will er sein Leben weihen.

 

1956 macht Yuri Edelstein sein Examen. Die letzte Prüfung ist im Fach „Ideologie“ (ähnlich der  Staatsbürgerkunde in der DDR). Aus welcher Quelle sich die Moral speise, wird er gefragt. „Die einzige Quelle für Moral ist das Christentum – nicht der Kommunismus“, antwortet Yuri mutig. Eine Stunde lang wird debattiert. Hinterher wird er zur Direktorin zitiert. Sie ist freundlich, bietet ihm Cognac und einen Apfel an. Father Georgi erinnert sich: „Sie hatte meine Noten vor sich liegen, alle waren exzellent. Sie sah mich an, fragte: `Warum musstest du so antworten, bist du ein Narr? Wolltest du jemanden bekehren?´ `Nein, ich hasse Propaganda, auch christliche, aber ich werde immer sagen, was ich für richtig oder falsch halte.´ Sie sagte, ich sei ein Idiot – und wünschte mir alles Gute. Ich hatte tatsächlich bestanden.“

 

Nach dem Studium geht Yuri auf die Krim. Er will Fremdenführer werden, erhält aber ein offizielles Verbot von den Behörden: als ideologisch fragwürdig eingestuft darf er Fremde nicht informieren. Stattdessen erhält er eine Vakanzvertretung als Englischlehrer an einer Uni am Kaspischen Meer. Dort trifft er eine Petersburger Mitstudentin wieder. Nach einem Jahr heiraten sie. Aus der Vakanz wird eine Festanstellung, sie bleiben 23 Jahre.

In der Kirche wirkt Yuri als Lektor, er hatte in St. Petersburg nebenher eine „kleine“ theologische Ausbildung gemacht.

Er spürt eine Berufung ganz als Priester zu wirken. Doch er wird nicht angenommen. Jedes Jahr fragt er erneut bei der Kirche an, wählt verschiedene Orte, fragt unterschiedliche Bischöfe. Die Auskunft ist immer die gleiche: Ein Dozent, der die Uni verlassen will, um Priester zu werden, wird unehrenhaft entlassen – und in diesem Fall bekommt die Kirche vom Staat keine Erlaubnis, ihn zu ordinieren. Ein Teufelskreis.

Soweit die offizielle Version. Hinter vorgehaltener Hand erfährt Yuri Edelstein, dass in der Orthodoxen Gemeinde gemunkelt wird: „Was will der Jude hier?“

 

Doch Yuri ist kein Mensch, der schnell aufgibt. Und so trifft er 1979, mittlerweile 47 Jahre alt, einen Bischof, der ihn – dem Personalmangel geschuldet - ohne viel zu fragen zum Priester weiht. Aus Yuri Edelstein wird Father Georgi Edelstein. Er beginnt ein Fernstudium und bekommt eine Pfarrstelle in Kursk – in der Kirche, in der er 1949 das erste Mal einen Gottesdienst besucht hatte.

„Das gibst ja nicht“, staune ich. Er wiegelt ab: „Manche Menschen nennen es ein Wunder, ich würde es eher Zufall nennen.“ Das zeichnet diesen Mann auch im hohen Alter noch aus: Neben seiner ausgeprägten Jesus Frömmigkeit besitzt er eine starke Bodenhaftung.

 

Nach drei Jahren wird Father Georgi in die Stadt Wologda versetzt. Er hatte sich mehrfach mit den Behörden angelegt. Er hielt Gottesdienste auf dem Friedhof ab, trug außerhalb der Kirche den Priesterrock, verteilte Neue Testamente, machte Hausbesuche. Es wurde ihm untersagt, obwohl alles offiziell legal war. Doch Father Georgi trägt immer das Buch mit den Kirchengesetzen in der Tasche und widersteht damit der Willkür der Behörden. Der Streit eskaliert, als er im Religions-Unterricht die mit den Schülern die alte Nationalhymne singt: „Gott segne den Zar“. Als ein langer Artikel in der Zeitung erscheint, warum ein solcher Priester Unterricht geben dürfe, versetzt der Bischof ihn in eine andere Kirche.

 

In der neuen Stadt bleibt Father Georgi unangepasst. Im Januar 1987 wird er von seiner Kirche suspendiert, weil er ein Sommercamp veranstaltet, ohne es angemeldet zu haben. Zeitgleich wird seine Frau als Lehrerin entlassen. Das Ziel ist offensichtlich: sein Überleben soll unmöglich gemacht werden. Die Familie kommt nur durch, weil er Stück für Stück seine wertvolle Bibliothek verkauft, die er – als gelernter Linguist - während Jahren in Antiquariaten zusammen gesucht hatte. Dazu veröffentlicht er einige Artikel über „Die Lage der Kirche im Kommunismus“ im Ausland. So kommt die Familie ein Jahr lang durch.

 

1988 wird Father Georgi dann wieder eingesetzt. „Kein geringerer als Ronald Reagan hat mich re-ordiniert“, erzählt er mit einer Mischung aus Grinsen und Kopfschütteln. Im Zuge der Reformen Michael Gorbatschows gibt es einen Staatsbesuch des US-Präsidenten bei seinem Russischen Amtskollegen. Reagan gibt in der amerikanischen Botschaft in Moskau einen Empfang für Dissidenten. Father Georgi wird ausdrücklich eingeladen, der Präsident hatte einige seiner Artikel gelesen. Alle Gäste kommen in Zivil, nur Father Georgi erscheint im Priesterrock. Damit ist er das geeignete Motiv für die Fernsehkameras, er gibt etliche Interviews. Er kritisiert die Kommunisten, und ebenso die USA: „Demokratie kann man nicht von außen bringen, dass müssen Länder selber entwickeln.“ Nicht nur die internationale Presse reagiert, am nächsten Tag erscheint ein großer Artikel über den Empfang in der Istvestija, der größten Zeitung Russlands.

 

Der öffentliche Druck ist immens. Die Kirche muss reagieren. Georgi Edelstein wird zum Gespräch gebeten. Die Kirchenleitung legt ihm ein komplettes, vom KGB erstelltes Dossier vor: über seine Schulzeit, die Studienzeit, seine Dienstjahre. „Sie drohten mir, sie hielten mir vor, dass sie mich zu Fall bringen könnten, wenn ich nicht endlich den Mund halte. Aber dann setzten sie mich wieder ein.“

 

1993 wird Father Georgi zu Vorträgen in die USA eingeladen. Er referiert über den schlechten äußeren und inneren Zustand der Kirche in Russland. Eine Methodistengemeinde verspricht ihm 30.000 Dollar, um eine der verfallenen Kirchen zu renovieren. Father Georgi spürt eine neue Berufung und bittet den Bischof um eine solche Aufgabe. Eine gute Gelegenheit, den unbequemen Mahner in die Provinz zu schicken. Karabanobo heißt das Ziel.

 

Die Kirche ist ein Desaster. Von den Kommunisten jahrelang als Traktorwerkstatt genutzt, ist sie mittlerweile verfallen. Die Wände sind eingestürzt, alle Kunstschätze geraubt.

Für eine Flasche Wodka, kauft Father Georgi ein altes Haus in der Nachbarschaft und zieht nach Karabanobo. Augenzwinkernd spricht er von „liquid currency“, flüssiger Währung. Bis heute bei Handwerkern beliebt, darum hatte er als Mitbringsel eine Kiste Whisky bestellt.

Bald darauf erreicht ihn diese Nachricht: Die zugesagten Gelder aus Amerika kommen nicht. Doch Father Georgi wäre nicht Father Georgi, wenn er deshalb resignieren würde. Bei den Nachbarn sammelt er gebrauchte Baumaterialien, auf Flohmärkten und in Antiquariaten ersteht er alte Schriften und Ikonen, die er zum großen Teil auf eigene Kosten restaurieren lassen muss. Auch seine internationalen Kontakte nutzt er. Ökumenische Hilfsteams kommen aus Norwegen und Großbritannien, junge Leute helfen beim Wiederaufbau. Zwei Jahre wird gebaut, 1995 ist die Kirche soweit wieder hergestellt, dass sie eingeweiht werden kann. In der Osternacht feiert die Gemeinde den ersten Gottesdienst. Father Georgi ist überwältigt. Die Kirche ist voll. Er erinnert sich: „156 Zigarettenstummel habe ich vor der Kirchentür gezählt.“

 

Doch nicht nur das Haus, auch die Gemeinde will gebaut sein. Father Georgi initiert weitere Projekte: Ein Waisenhaus entsteht, eine Suppenküche, eine Selbsthilfegruppe für Eltern von Kindern mit Downsyndrom. In das verfallene Dorf zieht bescheidenes neues Leben ein. Nicht genug Leben für Georgis Frau. Sie wird chronisch krank und braucht regelmäßige Behandlungen. Einen Arzt gibt es nicht im Dorf. Schweren Herzens zieht sie nach Kostroma. Father Georgi bleibt bei der Kirche in Karabanobo, eine Haushälterin unterstützt ihn. So sieht sich das Paar nur noch zwei bis dreimal im Monat. „Das ist für so ein altes Ehepaar schon machbar“, meint er, doch der schwere Seufzer spricht für sich selber.

 

Natürlich streitet sich Father Georgi aktuell mal wieder mit seinem Bischof. In der Sache ist dieser milde, freundliche Mann  bis heute ein Sturkopf. Anlass ist der Verkauf von Kerzen, Ikonen und anderen Devotionalien. Er will sie nur gegen eine freiwillige Gabe abgeben. Geschäfte zu machen, ist für ihn nicht das Ziel einer Kirche.

„Ich war so stolz, als ich meine Kirche renoviert hatte. Die Mauern, das Dach, die Türen. Doch ich kann sagen, nichts ist schwerer als eine Seele zu erneuern.“

 

Zum Abschied begleitet uns Father Georgi nach Kostroma. Wir besuchen die Kirchen mit den Goldenen Kuppeln. Auf dem Weg stürzt ein junger Mann in abgetragenen Kleidern auf den Priester zu und bittet ihn um seinen Segen. Während dieser ein Kreuzzeichen auf die Stirn des Mannes zeichnet, flüstert uns der Dolmetscher zu: „Er war eines der ersten Waisenkinder. Father Georgi hat ihn von der Straße geholt.“ Und wieder leuchtet das Abendlicht. 

 

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