Beiträge zu Büchern

Petra Hahn-Lütjen 

Dankeschöngeschichten 

Manchmal braucht ein „Danke“ eine Geschichte.

Erscheinungsdatum: 31.01.2016

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Dank an meine Mutter.

Eine wahre Geschichte.

Von Uwe Heimowski

 

„Danke, Mutti.“ Dicke Tränen laufen mir über die Wangen. Die Urne wird langsam

in die Erde herabgelassen. Ich streue eine Handvoll Frühlingsblumen hinterher, lege

vorsichtig eine Rose dazu. Irgendwie ein surrealer, unwirklicher Moment. Beinahe

bin ich mehr gerührt, als traurig. Wie vieles einem in einer einzigen Minute durch

den Kopf schießen kann.

 

„Frau Lewandowski?“

„Ja, wer spricht da bitte?“

„Hier ist Frau Staack, die Lateinlehrerin ihres Sohnes. Ich muss Ihnen sagen ...“

Nachdem sie einige Schandtaten aufgezählt hatte, fiel meine Mutter, die den Namen ihres zweiten Mannes trug, der Lehrerin ins Wort.

„So, jetzt will ich auch mal was sagen. Es trifft sich nämlich gut, dass Sie anrufen,

sonst hätte ich mich bald bei ihnen gemeldet. Was fällt ihnen eigentlich ein, so mit

meinem Jungen umzugehen? Was Uwe mir da erzählt hat ...“

Was Uwe da erzählt hatte, das war – um es vorsichtig auszudrücken – die doch sehr

einseitige Sicht des Siebtklässlers auf eine Reihe von Konflikten im Lateinunterricht,

die sich seit Monaten hinzog. Ich fühlte mich ungerecht behandelt, war aber auch

stockfaul und rotzfrech. Später blieb ich mit einer Sechs sitzen. Verdient. Daran hat

dieses Telefonat nicht viel ändern können.

 

Aber was ich nie vergessen werde: Meine Mutter hat zu mir gehalten. Sie stand auf

meiner Seite, hat für ihren Sohn gekämpft. Sie hatte fünf Kinder, keines von ihnen,

keiner von uns ist in seiner Jugend einen geraden Weg gegangen.

Doch bei allem Mist, den wir gebaut, bei allen Umwegen, die wir genommen haben,

stand eines immer wie in Stein gemeißelt: Unsere Mutter steht zu uns.

 

Um nicht falsch verstanden zu werden: Kaum hatte meine Mutter aufgelegt, gab‘s

was mit dem Holzlöffel auf den Allerwertesten, bis die Hose qualmte. Aber sie hätte

uns nie fallen lassen. Und sie hat uns immer nach außen verteidigt.

Danke, Mutti.

 

Wie oft kam ich nach Hause und saß verzweifelt über meinen Hausaufgaben,

während meine Kumpels, die sich nicht durchs Gymnasium quälen mussten, was ich ihnen damals mit jeder Faser meines Körpers neidetet, längst auf den Bolzplatz

unsicher machten. Sexta, Quinta, Quarta, Untertertia, Obersekunda – wenn ich mich

allein an die Namen dieser Klassenstufen zurückerinnere, schüttelt‘s mich. Mit jedem Schuljahr kam ich später nach Hause und es gab mehr Arbeit.

Am liebsten hätte ich meinen Schulranzen in die Ecke gefeuert und wäre sofort mit

meinen Freunden Fußball spielen gegangen. Aber meine Mutter nagelte mich fest:

Hast du Hausaufgaben? Musst du lernen?

Und wenn es nicht anders ging, fragte sie mich die Vokabeln ab. Wie oft hat sie sich

 

bei den schweren Begriffen fast die Zunge verrenkt. Litauisch hätte sie mir beibringen können, aber Englisch und Latein?

 

1937 auf einem Gut bei Kaunas in Litauen geboren, geriet die deutsche Familie, die

seit Generationen mit den Nachbarn in Frieden gelebt hatte, in die Kriegswirren

hinein. Sie musste vor den Russen fliehen. Meine Mutter, das jüngste von zwölf

Kindern, verbrachte einige unsagbar entbehrungsreiche Jahre im Flüchtlingslager in

Polen, bevor sie Anfang der 1950er-Jahre in Thüringen und später in Niedersachsen

eine neue Heimat fand. Nur ein einziges Jahr konnte sie die Schule besuchen. Lesen

und Schreiben musste sie mühsam mehr oder weniger autodidaktisch erlernen. Und dennoch ließ sie es sich nicht nehmen, ihrem Sohn bei den Hausaufgaben zu helfen. Danke, Mutti.

 

Frühlingsblumen. Langsam gleiten sie aus meiner Hand in die kleine Aushebung auf

der Friedhofswiese und legen sich auf die glänzende Urne, in der die sterblichen

Überreste meiner Mutter hier zur letzten Ruhe gebettet werden.

Wie hat sie alles geliebt, was wild in der Natur wuchs. Blumen. Und Beeren. In den

letzten Jahren konnte sie ihre geliebten Spaziergänge nur noch mit dem Rollator

unternehmen. Doch kein Spaziergang, von dem sie nicht etwas mitbrachte:

Brombeeren, Blaubeeren, Augustäpfel, Birnen, Holunderblüten. Und wie stolz

leuchteten ihre Augen, wenn sie uns dann körbeweise selbstgemachte Marmelade und Apfelmus und Kompottgläser mitgab.

 

Woran man denkt, in einem solchen Moment.

Mir fällt ein Schlaflied ein: „Guten Abend, gut‘ Nacht. Mit Rosen bedacht. Mit

Näglein besteckt. Schlupf unter die Deck‘. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du

wieder geweckt.“

Der neue Morgen. Für meine Mutter hat er schon begonnen. In Gottes neuer Welt.

Auch da hat sie ihre Spuren gelegt. Wenn ich im Bett lag, ein ängstliches Kind, dann

las sie mir und meinem Bruder vor. Immer wieder wollte ich „Der große und der

kleine Klaus“ hören. Immer wieder ihre Erklärung, dass der aufrichtige Weg sich

lohne. Dann sangen wir, und sie betete. Und wir konnten schlafen. In der Hoffnung

auf den neuen Tag.

In Gottes Welt gibt es diesen neuen Tag. Für einen Schulversager, für ein

Flüchtlingskind, für den Abschied am Ende des Lebens. Das habe ich schon als Kind

gespürt – und Jahre später verstanden. Eine Hoffnung, die am Grab lebendiger wird

als irgendwo sonst. Danke, Mutti, dass du diese Spur schon früh gelegt hast.

 

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