Dank an meine Mutter.
Eine wahre Geschichte.
Von Uwe Heimowski
„Danke, Mutti.“ Dicke Tränen laufen mir über die Wangen. Die Urne wird langsam
in die Erde herabgelassen. Ich streue eine Handvoll Frühlingsblumen hinterher, lege
vorsichtig eine Rose dazu. Irgendwie ein surrealer, unwirklicher Moment. Beinahe
bin ich mehr gerührt, als traurig. Wie vieles einem in einer einzigen Minute durch
den Kopf schießen kann.
„Frau Lewandowski?“
„Ja, wer spricht da bitte?“
„Hier ist Frau Staack, die Lateinlehrerin ihres Sohnes. Ich muss Ihnen sagen ...“
Nachdem sie einige Schandtaten aufgezählt hatte, fiel meine Mutter, die den Namen ihres zweiten Mannes trug, der Lehrerin ins Wort.
„So, jetzt will ich auch mal was sagen. Es trifft sich nämlich gut, dass Sie anrufen,
sonst hätte ich mich bald bei ihnen gemeldet. Was fällt ihnen eigentlich ein, so mit
meinem Jungen umzugehen? Was Uwe mir da erzählt hat ...“
Was Uwe da erzählt hatte, das war – um es vorsichtig auszudrücken – die doch sehr
einseitige Sicht des Siebtklässlers auf eine Reihe von Konflikten im Lateinunterricht,
die sich seit Monaten hinzog. Ich fühlte mich ungerecht behandelt, war aber auch
stockfaul und rotzfrech. Später blieb ich mit einer Sechs sitzen. Verdient. Daran hat
dieses Telefonat nicht viel ändern können.
Aber was ich nie vergessen werde: Meine Mutter hat zu mir gehalten. Sie stand auf
meiner Seite, hat für ihren Sohn gekämpft. Sie hatte fünf Kinder, keines von ihnen,
keiner von uns ist in seiner Jugend einen geraden Weg gegangen.
Doch bei allem Mist, den wir gebaut, bei allen Umwegen, die wir genommen haben,
stand eines immer wie in Stein gemeißelt: Unsere Mutter steht zu uns.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Kaum hatte meine Mutter aufgelegt, gab‘s
was mit dem Holzlöffel auf den Allerwertesten, bis die Hose qualmte. Aber sie hätte
uns nie fallen lassen. Und sie hat uns immer nach außen verteidigt.
Danke, Mutti.
Wie oft kam ich nach Hause und saß verzweifelt über meinen Hausaufgaben,
während meine Kumpels, die sich nicht durchs Gymnasium quälen mussten, was ich ihnen damals mit jeder Faser meines Körpers neidetet, längst auf den Bolzplatz
unsicher machten. Sexta, Quinta, Quarta, Untertertia, Obersekunda – wenn ich mich
allein an die Namen dieser Klassenstufen zurückerinnere, schüttelt‘s mich. Mit jedem Schuljahr kam ich später nach Hause und es gab mehr Arbeit.
Am liebsten hätte ich meinen Schulranzen in die Ecke gefeuert und wäre sofort mit
meinen Freunden Fußball spielen gegangen. Aber meine Mutter nagelte mich fest:
Hast du Hausaufgaben? Musst du lernen?
Und wenn es nicht anders ging, fragte sie mich die Vokabeln ab. Wie oft hat sie sich
bei den schweren Begriffen fast die Zunge verrenkt. Litauisch hätte sie mir beibringen können, aber Englisch und Latein?
1937 auf einem Gut bei Kaunas in Litauen geboren, geriet die deutsche Familie, die
seit Generationen mit den Nachbarn in Frieden gelebt hatte, in die Kriegswirren
hinein. Sie musste vor den Russen fliehen. Meine Mutter, das jüngste von zwölf
Kindern, verbrachte einige unsagbar entbehrungsreiche Jahre im Flüchtlingslager in
Polen, bevor sie Anfang der 1950er-Jahre in Thüringen und später in Niedersachsen
eine neue Heimat fand. Nur ein einziges Jahr konnte sie die Schule besuchen. Lesen
und Schreiben musste sie mühsam mehr oder weniger autodidaktisch erlernen. Und dennoch ließ sie es sich nicht nehmen, ihrem Sohn bei den Hausaufgaben zu helfen. Danke, Mutti.
Frühlingsblumen. Langsam gleiten sie aus meiner Hand in die kleine Aushebung auf
der Friedhofswiese und legen sich auf die glänzende Urne, in der die sterblichen
Überreste meiner Mutter hier zur letzten Ruhe gebettet werden.
Wie hat sie alles geliebt, was wild in der Natur wuchs. Blumen. Und Beeren. In den
letzten Jahren konnte sie ihre geliebten Spaziergänge nur noch mit dem Rollator
unternehmen. Doch kein Spaziergang, von dem sie nicht etwas mitbrachte:
Brombeeren, Blaubeeren, Augustäpfel, Birnen, Holunderblüten. Und wie stolz
leuchteten ihre Augen, wenn sie uns dann körbeweise selbstgemachte Marmelade und Apfelmus und Kompottgläser mitgab.
Woran man denkt, in einem solchen Moment.
Mir fällt ein Schlaflied ein: „Guten Abend, gut‘ Nacht. Mit Rosen bedacht. Mit
Näglein besteckt. Schlupf unter die Deck‘. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du
wieder geweckt.“
Der neue Morgen. Für meine Mutter hat er schon begonnen. In Gottes neuer Welt.
Auch da hat sie ihre Spuren gelegt. Wenn ich im Bett lag, ein ängstliches Kind, dann
las sie mir und meinem Bruder vor. Immer wieder wollte ich „Der große und der
kleine Klaus“ hören. Immer wieder ihre Erklärung, dass der aufrichtige Weg sich
lohne. Dann sangen wir, und sie betete. Und wir konnten schlafen. In der Hoffnung
auf den neuen Tag.
In Gottes Welt gibt es diesen neuen Tag. Für einen Schulversager, für ein
Flüchtlingskind, für den Abschied am Ende des Lebens. Das habe ich schon als Kind
gespürt – und Jahre später verstanden. Eine Hoffnung, die am Grab lebendiger wird
als irgendwo sonst. Danke, Mutti, dass du diese Spur schon früh gelegt hast.