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Wie mein Stiefvater mein Vater wurde

Uwe Heimowski

 

 

2014 sind meine Eltern gestorben. Innerhalb von fünf Wochen. Es war eine traurige und schwierige Zeit. Doch mit den Tagen und Wochen wächst die Dankbarkeit. Mein Vater war eigentlich mein Stiefvater. Und es ist ein Wunder, dass wir zu Vater und Sohn wurden.

 

 

Rückblende 1: Meine Mutter

 

Meine Mutter wurde 1936 als jüngstes von zwölf Kindern in Litauen geboren. Durch den Krieg war die deutsche Minderheit zur Aufgabe ihrer Heimat gezwungen. Auf der Flucht geriet die Familie in Gefangenschaft. Die Jahre im Lager waren von unglaublichen Qualen gefüllt: Hunger, schwere körperliche Arbeit und Schikanen bis hin zu Vergewaltigungen. Als meine Mutter endlich in Deutschland ankam, hatte sie acht Geschwister verloren, ihre eigene Mutter war vermisst und wurde erst nach Jahren vom Roten Kreuz gefunden. Sie musste den Vater und zwei Brüder versorgen, einer davon war ertaubt. Ein Jahr konnte sie zur Schule gehen, mehr war nicht möglich.

Mit 17 lernte sie auf einer Kirmes einen jungen Mann kennen, schnell wurde sie schwanger und heiratete. Die Ehe wurde eine Katastrophe. Mein Vater brachte sein Geld mit anderen Frauen durch, trank, schlug meine Mutter, drangsalierte die Kinder, wo er konnte. Vier Kinder wurden geboren: meine Schwester, nach zwei Jahren mein Bruder, nach zehn Jahren ich, dreieinhalb Jahre später mein kleiner Bruder. Meine Mutter fügte sich viele Jahre in ihr Schicksal.

Ich kann mich an wenig erinnern aus meinen ersten Lebensjahren. Das meiste geht auf die Erzählungen meiner Mutter und der großen Geschwister zurück. Aber woran ich mich noch ganz genau erinnere, ist ein bestimmtes Gefühl: Angst zu haben vor seinen Launen. Man wusste nie, wann mein Vater kam, und man wusste nie, wie er kam. Hatte er getrunken? War er laut? Würde er schlagen? Etwas kaputtmachen? Die Atmosphäre war wie vor einem Gewitter, wenn jeden Moment der Blitz einschlagen kann. Es war schrecklich, pure Angst.

 

 

Rückblende 2: Der Ausweg

 

Endlich lernte meine Mutter einen anderen Mann kennen, einen Arbeitskollegen meines Vaters. Eines Morgens wurden wir Kinder in aller Frühe geweckt, alle unsere Möbel, so kam es mir vor, standen auf dem Gehweg. Ein fremder Mann kam mit einem kleinen Laster, umarmte meine Mutter, setzte uns ins Führerhaus, lud alles auf und fuhr mit uns davon. Vorübergehend wohnten wir in einem Nachbardorf.

Wir Kinder verstanden das alles nicht, aber wir waren froh, dass die Angst ein Ende hatte. Ich war erst vier, aber ich weiß noch, wie ich aufatmete.

Meine Mutter wurde in einer Scheidungsschlammschlacht nach dem alten Scheidungsrecht schuldig geschieden, weil sie zu einem anderen gegangen war. Das Haus, das sie mit meinem Vater gebaut hatte, wurde ihm zugesprochen.

 

 

Rückblende 3: Der tiefe Riss

 

Wir zogen weit weg. Von Niedersachsen ging es an die dänische Grenze. Mein Stiefvater fand hier Arbeit, meine Eltern bauten ein Haus, und wir lebten in einem kleinen Dorf. Meine Erinnerungen an meinen Vater verblassten immer mehr. Helmut, mein Stiefvater, war für uns beiden Kleinen „Vati“ geworden.

„Vati, willst du mich adoptieren?“ Wir standen im Wohnzimmer, mein Stiefvater und ich. Ich muss etwa in der vierten Klasse gewesen sein und wir hatten in der Schule etwas über Adoption gelernt. Nun platzte ich unvermittelt mit dieser Frage heraus, ohne länger darüber nachzudenken. Es war für mein kindliches Gemüt eine logische Frage. Ich wusste, dass Helmut mein Stiefvater war, aber ich erlebte ihn doch als Vater. Er sorgte für uns, er war der Mann meiner Mutter. Also: Warum sollte er mich nicht auch adoptieren? Die Antwort haute mich fast um: „Das fehlt mir gerade noch! Ich habe schon Probleme genug mit euch!“ Er drehte sich um und sprach nicht weiter mit mir darüber.

Für mich brach eine Welt zusammen. Was war hier los? Später habe ich manches verstanden: Helmut musste für drei Kinder aus erster Ehe Unterhalt zahlen, mein Vater zahlte gar nichts. Meine große Schwester war kurz vorher schwanger geworden, mein großer Bruder hatte eine Reihe von Straftaten begangen. Er war einfach überfordert mit der ganzen Situation. Schon allein finanziell: Er schob etliche Überstunden. Aber das war mir damals nicht bewusst. Mich traf einfach eine große Keule: „Nein, ich will dich nicht.“

 

 

Rückblende 4: Verachtung

 

Mein Verhältnis zu meinem Stiefvater veränderte sich schlagartig. Ich ging auf Distanz, machte immer mehr mein eigenes Ding. Da er wenig zu Hause war, fiel das nicht so auf, aber ich kapselte mich von ihm ab.

Die Situation eskalierte, als ich etwa vierzehn war. Ich hatte – mal wieder – in der Schule etwas kaputtgemacht. Helmut stellte mich zur Rede. Was das solle, wollte er von mir wissen. Ich antwortete nicht. Er drängte eine ganze Weile, ich blockte ab. Schließlich drohte er mir Schläge an.

Ich funkelte ihn an: „Mach doch, schlag mich doch.“ Giftig setzte ich noch eins drauf: „Wo der Verstand aussetzt, setzt die Faust ein – du kannst mich gerne schlagen, wir wissen ja sowieso beide, dass du dümmer bist als ich.“

Das saß. Helmut stiegen Tränen in die Augen, er wandte sich ab und ging. Ich hatte ihn genau da getroffen, wo es richtig wehtat. In mir stieg ein Triumphgefühl auf. Endlich hatte ich es ihm heimgezahlt.

Helmut sagte nie wieder etwas zu meinem Verhalten. Ich fing an zu trinken, zu kiffen, flog von der Schule – sicher nicht wegen ihm, aber er konnte daran nichts ändern und versuchte es auch nicht mehr. Als ich zu Hause auszog, verlor sich die Kälte etwas, aber warm wurde es nicht mehr.

 

 

Rückblende 5: Heilung

 

Es bedurfte einiger Umwege, bis ich Christ wurde und mein Leben geordnet hatte. Endlich, mit knapp 30, hatte ich nun auch die Frau fürs Leben gefunden. Wir planten die Hochzeit. Christines Eltern, Heilsarmeeoffiziere, sollten uns trauen. Meinen Stiefvater bat ich, einen Segen zu sprechen. Er war kein Kirchgänger und hatte noch nie öffentlich vor Menschen gesprochen, aber als ich ihm eine Postkarte mit einem Segen zeigte, sagte er zu.

In den Jahren seit meiner Lebenswende hatte ich immer wieder an das Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ denken müssen. Wie gerne hätte ich die Vergangenheit rückgängig gemacht. Ich fühlte mich schuldig, weil ich so unverschämt gewesen war, aber auch verletzt durch Helmuts Ablehnung. Doch ich schaffte es nicht, ein klärendes Gespräch zu beginnen.

Nun kam der Gottesdienst. Aus meiner Sicht eine Traumhochzeit. Ich war emotional so aufgewühlt wie noch nie zuvor und später nur noch bei der Geburt unserer Kinder. Alles lief ab wie im Film. Am Schluss ging Helmut nach vorne. Er nahm einen Zettel aus der Jacke und begann: „Uwe hat mich gefragt, ob ich einen Segen sprechen kann. Vorher möchte ich aber noch ein paar persönliche Worte sagen.“ Und er erzählte aus unserer Familie, aus meinem Leben und wie er und meine Mutter alles wahrgenommen hatten. Er erzählte voller Stolz davon, dass aus mir ja doch etwas geworden sei. Er verhaspelte sich, verlor den Faden – und ich weiß auch gar nicht mehr genau, was er gesagt hat. Aber dieser Moment, dieser eine Moment dort im Gottesdienst, war ein Kairos, ein Augenblick Gottes. Mein Vater traf tief in mein Herz und – so platt und pathetisch das auch immer klingen mag – mein Herz wurde geheilt. Die Botschaft war eindeutig: „Ich liebe dich – und das war schon ganz lange so, auch wenn du es nicht gemerkt hast.“

Ab diesem Tag war mein Stiefvater mein Vater. Fast zwanzig Jahre lang. Und ein guter Schwiegervater und ein noch besserer Opa für unsere fünf Kinder. Danke, Gott – und danke, Vati.

 

Uwe Heimowski, Jahrgang 1964, Pastor und Referent eines MdB, Gera


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