„The Maiden Tribute of Modern Babylon“
1885: Die Heilsarmee im Kampf gegen Kinderprostitution
von Uwe Heimowski
Die Überschrift der vielgelesenen Londoner Pall Mall Gazette an jenem Morgen des 6. Juli 1885 schlug ein wie eine Bombe: „The Maiden Tribute of Modern Babylon“ war da in fetten Lettern zu lesen – „Das Jungfrauenopfer im modernen Babylon“.
Kein Geringerer als William T. Stead, der Herausgeber der Zeitung selbst, hatte die Beiträge verfasst. Sie erschienen als Fortsetzung an fünf Tagen hintereinander. Jeder Artikel war mit einem eigenen reißerischen Titel versehen, um ein möglichst
großes Publikum zu erreichen: „The Violation of Virgins“ („Die vergewaltigten Jungfrauen“) oder „Strapping Girls Down“ („Die gefesselten Mädchen“). Die Pall Mall Gazette wollte einen Skandal – und sie bekam ihn.
Worum ging es beim „Maiden Tribute“? Stead hatte schonungslos die Situation minderjähriger Prostituierter in England dargestellt. Vor allem „young under-privileged girls“, junge Mädchen aus sozialen Randgruppen und vom Land wurden von Menschenhändlern in Bordelle verkauft. Der Markt florierte vor allem in der Großstadt London und auf dem europäischen Festland.
Initiiert worden war die Artikelserie von der Heilsarmee. Catherine Booth, die Frau des Heilsarmeegründers William Booth, kämpfte für Frauenrechte und gegen jede Form von Unterdrückung. Als 1864 festgestellt wurde, dass ein Drittel der
britischen Soldaten an Geschlechtskrankheiten litten, verabschiedete das Parlament ein „Gesetz gegen ansteckende Krankheiten“. Darin wurden einseitig die Prostituierten für die Epidemie verantwortlich gemacht. Für Catherine Booth ein völlig falscher Weg. Sie sah die Frauen als Opfer, die nicht auch noch zusätzlich kriminalisiert werden durften. Die Heilsarmee bekämpfe die Prostitution, aber nicht die Prostituierten, erklärte Catherine Booth. Sie beließ es nicht bei Worten. Für Aussteigerinnen aus dem Milieu wurden „rescue homes“ aufgebaut, eine
Art Frauenhäuser, in denen die Frauen eine sichere Unterkunft fanden und einen Beruf erlernen konnten.
Parallel dazu stellte die Heilsarmee politische Forderungen: Das „age of consent“ (Alter der Mündigkeit) und damit das Mindestalter für „einvernehmlichen“ Geschlechtsverkehr sollte von 13 auf 16 Jahre erhöht werden. Regelmäßig schrieb Catherine Booth an Queen Victoria, um ihren Forderungen Nachdruck zu
verleihen.
Die Zeit ist reif – Catherine Booth findet Unterstützung
Fast zwei Jahrzehnte lang blieben Catherine Booths Briefe ungehört. Doch sie ließ nicht locker. Anfang 1885 ermöglichten es dann verschiedene Umstände, eine große Kampagne zu starten. Josephine Butler, eine bekannte Frauenrechtlerin, schrieb einen Brief an Florence Booth, die Schwiegertochter des Heilsarmeegründers, in welchem sie die Zustände in den Bordellen und das Ausmaß der Kinderprostitution noch einmal nachdrücklich schilderte. Sie schlug der Heilsarmee vor, gemeinsam dagegen vorzugehen.
Florence Booth hatte in den Jahren zuvor Teams von jungen Frauen aufgebaut, die man heute Streetworkerinnen nennen würde. Die sogenannten „Halleluja Lassis“ besuchten die Prostituierten und boten ihnen Unterstützung an. Florence kannte die Situation und die Schicksale der Mädchen aus erster Hand. Viele von ihnen waren verkauft und mit Gewalt dazu gezwungen worden, ihren Körper zu verkaufen. Mit ihrem Mann Bramwell Booth überlegte sie, wie eine öffentliche Kampagne aussehen könnte. Bramwell wiederum war mit William T. Stead befreundet, den er als investigativen Journalisten kannte. Er bat ihn um Unterstützung. Daraufhin aktivierte Stead seinen Recherche-Apparat. Anonym
betritt er Kneipen und Bordelle, unterstützt von einem Angestellten der Pall Mall Gazette. Eine Offizierin der Heilsarmee und zwei weitere Frauen geben sich als Prostituierte aus, besuchen Bordelle und schildern Stead ihre Erlebnisse. Zur
selben Zeit begleitet Josephine Butler ihren Sohn in Luxus-Apartments, wo ihm gegen Geld Mädchen in jeder Altersklasse auf sein Zimmer geschickt werden. Sie protokollieren ihre Erlebnisse. Außerdem führt Stead Dutzende von Interviews, um
Informationen aus erster Hand zu bekommen: mit dem ehemaligen
Chefermittler von Scotland Yard, mit Sozialarbeitern und Gefängnis-Seelsorgern, aber auch mit Bordell-Betreibern, Zuhältern, Menschenhändlern und Prostituierten. Er beabsichtigt diese Ergebnisse sehr detailliert zu veröffentlichen, doch ist er sich nicht sicher, ob das die Menschen wirklich aufrütteln wird. Es braucht einen handfesten Skandal.
In enger Abstimmung mit Bramwell Booth startet Stead einen „Selbstversuch“: Er beschließt, ein Kind zu kaufen und den Weg von seinem Zuhause bis in das Bordell zu protokollieren. Zuvor weiht Stead einige hochrangige Vertrauenspersonen
ein: den Erzbischof von Canterbury, den römisch-katholischen Kardinal, den Bischof von London und den bekannten baptistischen Prediger Charles H. Spurgeon.
Gemeinsam mit der ehemaligen Zuhälterin Rebecca Jarrett, die bei der Heilsarmee zum Glauben gekommen und ausgestiegen ist, nimmt er Kontakt zu einer Menschenhändlerin auf.
Diese vermittelt ihnen die 13-jährige Eliza Armstrong, die mit ihrer alkoholabhängigen Mutter in einem Dorf außerhalb Londons lebt. Die Käufer erklären unzweideutig, welche Zwecke sie mit dem Mädchen verfolgen. Die Mutter verkauft Stead das Mädchen für fünf Pfund, was ungefähr der heutigen Kaufkraft
von 500 Euro entspricht. Ein Zertifikat über die Jungfräulichkeit Elizas wird von einem abgewrackten Gynäkologen, der sein Auskommen mit illegalen Abtreibungen bestreitet, mitgeliefert.
Das Kind wird nach London gebracht, dort betäubt und nach Frankreich geschmuggelt, wo es in die Obhut der Heilsarmee übergeben wird.
Der Skandal wird öffentlich – Steads Artikel erscheint
Am 6. Juli erscheint der Artikel in der Pall Mall Gazette. Stead stellt fest: „London ... is the greatest market of human flesh in the whole world“, London sei der „größte Markt für Menschenfleisch auf der ganzen Welt.“
Er stellt fünf moralische und politische Forderungen:
Stead erreicht sein Ziel: Der Skandal ist in aller Munde. Zeitgenossen wie der Schriftsteller George Bernard Shaw und viele andere stellen sich öffentlich auf seine Seite. Doch es werden auch massive Vorwürfe laut: Selbsternannte
Moralapostel nennen Steads Beschreibungen voyeuristisch und reißerisch, ja pornografisch. Andere spielen die Sache herunter: Die Mädchen würden freiwillig zustimmen.
Der Höhepunkt dieser Anfeindungen: William Stead, Bramwell Booth und Rebecca Jarrett landen vor Gericht. Obwohl der Name Elizas im Artikel in Lily geändert und einige Details verfremdet wurden, erkennt die Mutter des Mädchens ihre Tochter
darin. Sie geht zur Polizei: Das Kind sei gestohlen worden. Und tatsächlich kommt es zu einer Verurteilung wegen Menschenhandels.
Jarrett wird zu sechs Monaten, Stead zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, nur der mitangeklagte Bramwell Booth erhält einen Freispruch.
Dennoch überwiegen in der öffentlichen Wahrnehmung die Unterstützer. Die Heilsarmee startet eine Kampagne, die sie „purity campaign“ nennt. Jeden Tag finden an bekannten Plätzen in London und anderen großen Städten Protestkundgebungen statt, William und Catherine Booth halten flammende
Reden, um die Forderungen Steads zu unterstützen. Sie erstellen eine Petition mit zwei konkreten Gesetzesänderungen: die Heraufsetzung des „age of consent“ von 13 auf 16 Jahre, um damit den bezahlten Geschlechtsverkehr mit unter Achtjährigen
als Missbrauch strafbar zu machen, sowie die Einführung der Zeugnisfähigkeit von unter Achtjährigen – hatten entsprechend junge Kinder bisher einen Missbrauch angezeigt, galten ihre Aussagen nicht. Verschiedene Frauenrechtlerinnen stellen
sich auf die Seite der Heilsarmee. Binnen zwanzig Tagen gelingt es, die nie da gewesene Zahl von 393.000 Unterschriften zusammenzutragen.
Am 30. Juli 1885 wird die Übergabe der Petition öffentlichkeitswirksam inszeniert: In einem langen Zug, angeführt von einer 50 Mann starken Blaskapelle, berittenen Offizieren und marschierenden Soldaten der Heilsarmee, alle in neuen roten Uniformen mit weißen Helmen, wird die Petition zum Unterhaus gebracht und dort dem Parlament feierlich übergeben.
Der öffentliche Druck zeigt Erfolg: Am 14. August 1885 beschließt das britische Parlament „The Criminal Law Amend10 ment Act“, ein Gesetz, in welchem die Forderungen der Petition umgesetzt werden.
Das Gesetz wird geändert – die Aufgabe bleibt
Der Kampf gegen die Ausbeutung von Kindern und gegen Zwangsprostitution hat sich auch im 21. Jahrhundert nicht erübrigt. Im Gegenteil. Neben der Heilsarmee engagieren sich viele NGOs und Initiativen in diesem Bereich, in Deutschland
etwa in dem Bündnis „Gemeinsam gegen Menschenhandel“, dessen Programm vier Punkte enthält: Öffentlichkeit, Gesetzgebung, Prävention und Opferhilfe. Diese scheinen im Rückblick wie eine Zusammenfassung des „Maiden Tribut“.
Durch den öffentlichen Skandal, welchen die Artikelreihe in der Pall Mall Gazette auslöste, kam 1885 Bewegung in das Thema Kinderprostitution – nach fast zwei Jahrzehnten, in denen Catherine Booth und andere bereits gekämpft hatten.
„Awareness“ (Öffentlichkeitsarbeit / Bewusstseinsbildung) ist ein Kernelement gelingender gesellschaftlicher Veränderung.
Mutige, unabhängige Journalisten müssen den Finger in die Wunden einer Gesellschaft legen, begleitende Kampagnen können das befördern. Nachhaltig hilft aber nicht Empörung, sondern eine kontinuierliche Arbeit und eine tragfähige gesetzliche Grundlage, damit Täter auch zur Rechenschaft gezogen und Opfer geschützt werden können.
Eine Verbesserung der Lebensbedingungen ist das wirksamste Instrument der Prävention. Darum legten William und Catherine Booth 1890 mit dem Buch „In darkest England and the way out“ nur fünf Jahre später einen umfassenden
Sozialplan vor. Auch an dessen Abfassung wirkte William T. Stead mit.
Aus der Geschichte lernen, heißt mitunter, Fehler zu vermeiden.
Manchmal aber heißt es auch: das Gute zu wiederholen und in die heutige Zeit zu übersetzen.
Die Kampagne um den „Maiden Tribute“ ist ein denkwürdiges Beispiel dafür, wie der Kampf gegen Menschenhandel und Kinderprostitution auch
heute geführt werden kann.